Golfer-Insel 

Graphit und Blut auf Papier

150 x 230 cm

2011

KONZEPT


Der moderne Mensch leidet unter seiner Existenz. Um seine Lebenswelt unter Kontrolle zu bringen, optimiert er sich ständig unter höchstmöglichen Anstrengungen. Er gestaltet sein Umfeld, versucht seinen Unternehmungen einen Sinn abzugewinnen, überfordert sich unterdessen permanent unter den gegebenen Möglichkeiten seiner schöpferischen Kreativität. Der technische Fortschritt bietet ihm eine Fülle an Möglichkeiten, um seinen Werdegang zu gestalten und zu bestimmen, verwehrt ihm indessen die Garantie einer aus seinen fortlaufenden Unternehmungen, seiner Geschäftigkeit, seiner Ruhelosigkeit resultierenden endgültigen Befriedigung. Um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, hat er sich eine Illusionswelt geschaffen, die ihn partiell vertröstet. Denn die Realität ist der hässliche Verrat an unseren Wünschen und Träumen. Diesen Umstand aushalten zu müssen ist die eigentliche Tragik des Menschen.

Wenn Friedrich Nietzsche die Kunst als die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen bezeichnet [1], also nur in der Ästhetik das Leben gerechtfertigt erscheint, so kulminiert der Gang des Erkenntnisfortschritts heute in der Frage: Wozu Ästhetik, Harmonie und Schönheit in einer Welt von Zerwürfnissen jeder erdenklichen Art?

Das Unbehagen gegenüber unserer Kultur erschöpft sich an unserer beschränkten Wahrnehmung und wird überdies von vermeintlicher Sinnstiftung überlagert. Eine solche, aus Wunschvorstellungen geborene Welt, die wir stetig aufs Neue bunter und schriller ausgestalten, mehr einem Disneyland ähnlich als Platons Ideenwelt, erlöst uns nicht aus der Kontingenz der schlichten Nichtnotwendigkeit jeglicher Existenz.

Dabei floriert der Markt für alle nur erdenklichen Arten von Überlebensstrategien prächtig: an Ideologien, Parteien, Denkrichtungen, Werbeslogans und Ministerbeschlüssen mangelt es mitnichten. Die Gesellschaft ertrinkt in einer Flut von Bildern, Geräuschkulissen, Konsumgütern. Beruhigungs- und Aufputschmittel bieten ebenso Orientierungshilfe an wie Versicherungen und Gesetze zum Schutze des Bürgers. Scheint es nicht so, dass wir beliebig aussuchen können, was wir wünschen, begehren und erhoffen können, um alle Widrigkeiten des Lebens richten zu können, ja alles noch schneller, schöner und bequemer zu gestalten, sprich: nachhaltig glücklich zu werden?

Doch leider funktioniert dieses bunte Überlebenspaket aus Illusionen nicht so, wie wir uns das vorstellen. Unser Unbehagen drückt sich darin aus, dass wir unsere relative Wahrnehmung für die absolute Wirklichkeit halten. Unsere Interpretationen und Erklärungen des Wirklichen sind in unseren Augen Realität: das ist die Illusion, der wir anheimfallen. Das ist unser wahres Problem: hier setzt meine Kunst an. 


[1] Vorwort zu Richard Wagner in seinem Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", 1872


DIEDESILLUSIONIERUNGDESTROMPEL'ŒIL

In meinen Bildern biete ich dem Betrachter zugleich mehr und weniger an als andere Künstler. Der Blickwinkel, aus dem meine Arbeit wahrgenommen wird sowie der aktive Sehvorgang sind von zentraler Bedeutung für meine künstlerische Tätigkeit.

Kein anderes Organ bezeichnet die Schnittstelle zur wahrnehmbaren Welt wie das Auge. An seinem Eindruck bemisst sich, was wir visuell nachvollziehen. Wer sieht, was wird gesehen, von wo aus wird gesehen? Der Blick basiert, dass lässt sich aus der psychischen Ökonomie des Sehens schließen, auf Wiedererkennen, nicht auf Erkennen: „Ein dem zu sehenden Gegenstand verwandt und ähnlich gemachtes Auge muss man zum Sehen bringen. Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch die Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist.“ [1] Diese neuplatonische und in der Geistesgeschichte bis zum deutschen Idealismus wirkmächtige Sichtweise ist im 20. Jahrhundert sowohl unter dem Eindruck von Katastrophen als auch vor dem Hintergrund eines immensen technologischen Fortschritts zerbrochen.

Für kein anderes Sinnesorgan sind anhand einer Vielzahl optischer Apparate derart viele Hilfen entwickelt worden wie für das Auge: Kameras, Mikroskope, Teleskope, digitale und elektronische Aufzeichnungsgeräte, Bildschirme und in neuerer Zeit sogar eine Wissenschaft zur kritischen Untersuchung der Darstellungsmodi von Computerbildern. Diese Geräte und Untersuchungsmethoden dienen, so wird gemeinhin angenommen, einer besseren, insbesondere einer präziseren Wahrnehmung. Sie setzen im Einzelnen aber nur fort, was das Auge bereits vornimmt: Ausschnitte zu bilden und diese mit Bedeutung zu versehen. Jacques Lacan formuliert es folgendermaßen: „In unserem Bezug zu den Dingen, wie er auf dem Wege des Sehens entsteht und in den Figuren der Abbildung angeordnet wird, gleitet etwas, zieht vorüber, wird von Stufe zu Stufe weitergegeben, um darin jeweils bis zu einem gewissen Grad weggelassen zu werden – genau das wird als Blick bezeichnet.“ [2] Diese philosophische Betrachtung der Postvisualität, die den optischen Betrug im Subjekt und Objekt erkenntnistheoretisch begründet, hat zur Folge, dass wir beliebig neue Anordnungen treffen können und auf diese Weise in der Lage sind, unserem Variationsreichtum an Täuschungen zu neuer Brisanz zu verhelfen.

Nicht nur den reichhaltigen Vorrat an Bildern im menschlichen Bewusstsein möchte ich in meiner Kunst problematisieren, sondern in dessen Wiedererkennungsmodus die Muster aufzeigen, unter deren Bezugnahme wir kulturstiftend tätig werden. Ausgewählte Beispiele begleiten meine künstlerische Arbeit in diesem Wahrnehmungsprozess: vorbeiziehende Bilder (Bewegungen), „unsichtbare“ Bilder (Erinnerungen), Traumbilder (Psyche), Überblendungen von Historie und Gegenwart (Wiedererkennungseffekt bekannter gesellschaftlicher und historischer Vorbilder), Augenblicke des Alltags, die vom Gehirn mit Hilfe des Auges aufgezeichnet, gewöhnlich jedoch nicht im Gedächtnis verwahrt werden – ihnen kommt besondere Bedeutung zu. Ich schöpfe dabei optimal aus der Tatsache, dass es sich bei diesen Wahrnehmungen um eine vom menschlichen Geist geschaffene Illusion handelt, indem sie im Abbilden in einem weittragenden Sinne eine Wiederkehr dessen ermöglicht, was bereits stattgefunden oder existiert hat. In Form von reproduzierender Malerei historischer Vorbilder in bekannten, modernen Kontexten mache ich bereits Stattgefundenes sichtbar, das vom Verstand dennoch neu erfunden werden muss. Eine erhöhte Anzahl an Informationen bei der Bildbetrachtung führt dabei häufig zu einem Verlust an Eindeutigkeit.

Das Verhältnis des Abgebildeten zu den Erwartungen des Betrachters gleicht gemeinhin dem eines Trugbildes, einer Illusion. Das Beispiel von Velázquez' „Las Meninas“ gilt als klassisches Beispiel unerschöpflicher Kunstinterpretation. Wurde das Bild für uns als Betrachter hergerichtet oder schon als gesehene Welt dargestellt, die unabhängig von uns vorhanden ist und in die wir nur als zufällige Beobachter Einlass gewährt bekommen? Meine Verfremdung stößt in einen weiteren Raum signifikanter Wahrnehmung vor, ähnlich einer Szene aus Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“, in der ein kleines Mädchen in einer in Schwarzweiß gedrehten Filmszene als einziges farbig dargestelltes Wesen mit einem roten Mantel bekleidet durch die Straßen irrt.


[1] Plotin, Enneaden, Sechstes Buch, Kap.9

[2] Jacques Lacan: "Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar, Buch XI", 1964, Hrsg: Jacques-Alain Miller, Übersetzung: Norbert Haas, Originalausgabe Éditions du Seuil 1973, Dt. Ausgabe: Turia & Kant 2017.


MISSVERSTÄNDNISSE | TYPENKLASSIFIZIERUNGUNDGESELLSCHAFTSSTRUKTUR

In meinen Bildern befasse ich mich mit dem Problem der Bildillusion und der Wirklichkeitstäuschung. Meine Werke zeugen von der Unmöglichkeit, Realität objektiv darstellen zu können, denn jeder Mensch erlebt die sogenannte „Realität“ als seine eigene Wirklichkeit individuell anders, wobei das Empfinden der wahrnehmenden Person zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer beliebigen Anzahl äußerer Einflüsse von beliebiger Intensität gelenkt wird.

Jede Gesellschaft beruht auf einem breiten Konsens selbst geschaffener Wirklichkeiten. Deshalb stellt das Streben des Einzelnen nach Gruppenidentifikation angesichts vollkommen individueller Wirklichkeitswahrnehmung zwangsläufig eine permanente Quelle zwischenmenschlicher Konflikte dar. Eine anthropologische Konstante unserer Präsenz ist die Tatsache, dass wir im Blick des Anderen unser Ansehen nicht verlieren wollen. Wer zuerst sehen will, tut es unter dem Risiko, dabei zuerst gesehen zu werden. Das weite Feld von Eros, Libido und Nacktheit hat hier diesen Sachverhalt zum Thema. In dieser Auseinandersetzung sind Verhaltensstrukturen aufschlussreich, in denen sich der Mensch instinktiv Ausdrucksmöglichkeiten verschafft, die weniger Orientierungshilfen als Blöße offenbaren, seine Hinfälligkeit und Schwäche. Indem er seine Umwelt mit eigenen Gesetzen versieht, versucht er seine Umgebung abzugrenzen, auf diese Weise seinen eigenen Platz darin zu definieren und klar interpretierbare Regeln aufzustellen.

Je komplexer, je freiheitlicher eine Gesellschaft, desto größer sind ihre eigenen Widersprüche und desto einfacher ist es, die von ihr selbst geschaffenen Regeln in Frage zu stellen. Bekannte Bilddeutungen zu verfremden sind daher ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Ich betrachte Ereignisse, auch Vorgänge, die eindeutig nicht in unsere angelernten Verhaltensmuster passen und außerhalb unserer Konvention liegen als aufzugreifende Chance, um die Verwerfungen und Störungen aufzuzeigen, die kalkuliert Verwirrung und Befremdung auslösen können. Dazu gehören auch Grenzsituationen menschlicher Zumutbarkeit, hieraus entstehende Widersprüche und Missverständnisse, die aus Überlebensstrategien innerhalb einer komplexen Konsumgesellschaft entstehen.

Ergänzt durch die Überzeugung von der individuellen Wahrnehmungsrealität jedes Einzelnen ist die Illusion komplett, und die Idee einer allgemein gültigen Wahrheit wird zur perfekten Täuschung der Gesellschaft.


EWIGKEITSKULT

Menschliche Verzweiflung im Angesicht der Vergänglichkeit des Seins bildet einen weiteren Schwerpunkt meiner Arbeiten. In diesem Kontext interessiere ich mich insbesondere für die Ergebnisse der unerschöpflichen Bemühungen des Menschen, gegen das Flüchtige der Dinge anzukämpfen. Da ein sinnkonstituierendes Denken zum Scheitern verurteilt ist, dessen religiöse Legitimation zumindest fragwürdig ist und in gewisser Weise entzaubert, so ist die Frage nach der Kontingenz dringlicher denn je.

Um gegen das Flüchtige anzukämpfen hat der Mensch Strategien entwickelt, um das festzuhalten, was seinem Erinnerungsvermögen entgleitet - ja, entgleiten muss in der Assoziationsflut an Angeboten, in denen er sich zu verlieren droht.


Ausgehend von traditionellen Ausdrucksmitteln und einem Reservoir von Fotografien als Themenpool, habe ich eine Beziehung zwischen dem ausgewählten Material, der Gesamtkomposition und ihren Bildthemen herausgearbeitet. Sie spiegeln den Widerspruch zwischen der Vergänglichkeit alles Lebendigen und der vergeblichen Bemühung wider, unsere Erinnerung zu speichern, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Im Umgang und der Verarbeitung unterschiedlicher, größtenteils fragiler Materialien (Papier, Blut, Glas) versuche ich die Individualität, aber auch die Flüchtigkeit unserer Erinnerung herauszuarbeiten.


Ein Bild riskiert automatisch das Unmögliche, denn das perfekte Kunstwerk ist dasjenige, welches nie existieren wird. Deshalb bemühe ich mich, in meinen Bildern die Krise der Menschheit in seiner Suche nach einem Sinn Gestalt zu geben, einen Weg der Aussöhnung zwischen Mensch und Werk anzubieten.

Ist die Betrachtung der Vergangenheit oft romantisch verklärt, weil die Ruinen großartiger Architektur uns an unsere Vergänglichkeit gemahnen und uns trotzdem verzaubern, so ist der sensationslüsterne Blick auf die Katastrophen unserer Welt die pervertierte Kehrseite hiervon. In dieser Spannung einer gedehnten Zeit versucht meine Kunst den Betrachter kritisch als auch wohlwollend zu begleiten.


© Mona von Wittlage - KÜNSTLERIN